Peter Schlueer
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Interview mit Pianist Olli Mustonen

von Peter Schlüer, Klassik Heute

 

 

Welten aus Eis und Schnee

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Auf faszinierend eloquente und fantasievolle Weise gibt der finnische Pianist und Komponist Olli Mustonen Einblick in die Philosophie seines ungewöhnlichen Klavierspiels, das in einer kreativen und hochreflektierten Musikauffassung gründet. In seiner neuen Aufnahme (siehe CD-Rezension unten) verschränkt er mit einer selbst erfundenen Kombinationstechnik die chromatisch angeordneten Präludien und Fugen von Bach mit den im Quintenzirkel angeordneten Präludien und Fugen von Schostakowitsch. Damit hat er nicht nur ein originelles Tor zur mathematischen Schönheit der Harmonielehre geöffnet. Zugleich fand er mit seiner höchst individuellen Klaviertechnik einen Weg, Bach unter Ausschöpfung aller expressiven Mittel des modernen Konzertflügels zu interpretieren, ohne ihn auch nur eine Spur zu romantisieren: Ein radikal neuer pianistischer Zugang zu Bach. Im folgenden Interview mit Peter Schlüer illustriert Olli Mustonen seine künstlerische Gedankenwelt.

 

 

Peter Schlüer: Sie haben auf Ihrer neuen CD die Präludien und Fugen von Bach und Schostakowitsch auf einzigartige Weise miteinander verknüpft. Wie kamen Sie auf diese faszinierende Idee?

 

Olli Mustonen: Mein Vater ist professioneller Mathematiker, ein Statistiker. So erfuhr ich schon als Kind von Phänomenen, die sich mit sehr einfachen Zahlen ereignen, die wie zufällige Übereinstimmungen aussehen, aber doch nicht zufällig sind. Ich liebe diese Schönheit und Einfachheit. Das trifft auch auf meine Kombinationsidee zu. Ich fühlte, daß ich ein logisches Prinzip finden mußte, denn einzelne Stücke nur aus rein geschmacklichen Gründen aus den beiden Zyklen herauszunehmen, wäre unbefriedigend gewesen...

 

Peter Schlüer: ...weil die Zyklen in großer Strenge zusammenhängen...

 

Olli Mustonen: Richtig, und weil wir wissen, wie sehr Bach und Schostakowitsch es liebten, mit Zahlen zu spielen. Sie hätten sich für solche Experimente sicherlich interessiert. Zwischen der Musik und der Mathematik besteht überhaupt eine sehr innige Beziehung: Die Musik ist in gewisser Weise die abstrakteste der Künste und die Mathematik ist die abstrakteste der Wissenschaften.

 

Peter Schlüer: Bach und Schostakowitsch, zwei Zahlenspieler und doch auch zwei grundverschiedene Komponisten...

 

Olli Mustonen: Sie sind für mich wie zwei riesige Berggipfel. Zwischen zwei Komponisten aus so verschiedenen Epochen und Ländern gibt es natürlich große Elemente des Kontrastes, aber auf dieser enormen Höhe von Genie sind die Gemeinsamkeiten trotz der trennenden Jahrhunderte letztlich größer als die Gemeinsamkeiten mit den jeweiligen Zeitgenossen: Wenn man sich im Geiste gleichzeitig auf einen Berggipfel im Himalaya und einen anderen in den Anden versetzt, dann unterscheidet sich das, was jeweils in den Tälern auf Meereshöhe passiert, gewaltig. Es sind verschiedene Welten. Aber wenn man sich auf den Gipfeln in neun Kilometern Höhe befindet, dann erlebt man zwei sehr ähnliche weiße Welten aus Eis und Schnee.

 

Peter Schlüer: Ein großartiges Bild – mit dem man vielleicht auch Ihren manchmal geradezu gleißenden Klavierton assoziieren kann. Wenn man Sie beim Klavierspielen beobachtet, gewinnt man den Eindruck, daß Sie einen höchst individuellen Zugang zum körperlichen Aspekt des Klavierspielens gefunden haben.

 

Olli Mustonen: Es gibt da einige sehr wichtige Prinzipien für mich. Manchmal gebe ich Meisterklassen und muß diese Dinge verbalisieren, das ist sehr interessant. Viele Pianisten glauben zum Beispiel, daß man bei weiten Sprüngen mit den Händen so flach wie möglich an der Tastatur bleiben sollte, um einen möglichst kurzen, ökonomischen Weg zu haben. Aber ich habe das Gefühl, daß das eine sehr verkrampfte und unnatürliche Art des Spielens ist. Man muß dafür sehr eckige Bewegungen machen. Wenn man stattdessen die Entfernung mit einem hohen Bogen überwindet, dann ist das zwar mathematisch ein längerer Weg, praktisch aber kürzer und natürlicher, da es eine einzige harmonische Bewegung ist. Die Bewegung wird ein Teil des Klanges.

 

Interview mit Pianist Olli Mustonen Olli Mustonen

Tastenspiele mit imaginären Zahlen

 

Peter Schlüer: Die bewußte Wahrnehmung des Raumes über den Tasten ist also sehr hilfreich in Bezug auf den Klang und die Bewegungsökonomie?

 

Olli Mustonen: Es ist fast wie in der höheren Mathematik. Dort gibt es manchmal Situationen, wo wir normalerweise einen schwierigen Umweg gehen müssen, wie um eine Ecke herum, um zum Ergebnis zu kommen. Aber wenn wir die komplexen und imaginären Zahlen benutzen, dann können wir eine Abkürzung nehmen, und es wird sehr viel einfacher. Ich finde, am Klavier ist es genauso: Die zweidimensionale Fläche der Tasten ist der normale ‚Spielplatz', bis man eines Tages über die komplexe, imaginäre Welt oberhalb der Tasten nachzudenken beginnt. Wir können dort oben zwar nicht spielen, dort sind keine Tasten, genauso wie die imaginären Zahlen ja auch nicht in Wirklichkeit existieren. Aber wenn wir diesen Raum benutzen, können wir wunderbare Abkürzungen finden.

 

Peter Schlüer: ...und zu lockerem, unverkrampftem Spiel finden?

 

Olli Mustonen: Ja. Ich will damit auf keinen Fall prahlen, aber wie Sie vielleicht wissen, haben viele Pianisten Probleme mit ihren Händen, Verkrampfungen, Verspannungen, und müssen damit zum Arzt. Ich hatte nie derartige Probleme. Als Kind mußte ich einen ökonomischen Weg finden, die Stücke zu spielen, die für größere Menschen als mich geschrieben waren. Und so entwickelte ich ganz natürlich meine eigene Lösung.

 

Peter Schlüer: Die Entwicklung einer natürlichen Technik vertritt auch der Londoner Klavierpädagoge Peter Feuchtwanger. Sie haben von ihm schon gehört?

 

Olli Mustonen: Oh ja, ich habe schon sehr viel von ihm gehört. Er scheint genau in diesem Sinne zu unterrichten. Diese Technik hat auch zu tun mit dem Charakter mancher fernöstlicher Kampfsportarten, mit der Art, wie man seine Energie konzentrieren kann. Viele sehr gute Schüler sind zum Beispiel nicht in der Lage, einen Ton schwungvoll von oben herab anzuschlagen, ohne kurz vor der Taste abzubremsen. Es kostet nämlich sehr viel Mut das zu tun, man muß den Akkord, den man anschlagen will, schon sehr weit oben fühlen...

 

Peter Schlüer: ...also eine absolut klare Vorstellung von dem zu spielenden Akkord im Kopf haben. Sie haben mit dieser Technik eine fast tänzerische Freiheit der Bewegungen erreicht. Es wirkt manchmal so, als würden sie die Musik beim Spielen mit den Händen choreographieren.

 

Olli Mustonen: Genau. Ich stimme Ihnen vollkommen zu, wenn Sie das Element des Tanzes erwähnen. Es ist wie ein Ballett der Hände. Die Frau des russischen Komponisten Rodion Schtschedrin, Maya Plisetskaya, ist eine legendäre Ballerina. Ich habe mit ihr oft über diesen Aspekt gesprochen. Sie war besonders berühmt für die ausdrucksvolle Benutzung ihrer Hände. Ich erröte, wenn ich das sage, aber sie meinte, daß sie viel Ähnlichkeit empfindet zu dem, was ich tue, und das hat mich sehr stolz gemacht.

 

Peter Schlüer: Mich erinnert das an die Art, wie Carlos Kleiber dirigierte. Es wirkt, als ob er seinem Orchester vortanzt und für jede musikalische Phrase eine individuelle Bewegung findet.

 

Olli Mustonen: Absolut. Das ist fantastisch! Wir versuchen doch letztlich in einen Zustand zu kommen, wo etwas durch uns und das Klavier hindurchfließt, wo wir zum Medium werden. Ich will das nicht mystifizieren, aber ich fühle es ganz ursprünglich: Ich empfange den Strom der Musik, und meine Aufgabe ist es, ihn durch mich hindurch zu verstärken und ans Publikum weiterzugeben. Und die ganze Rolle des Übens ist es, die Hindernisse, die den Strom am Fließen hindern, zu beseitigen. Also üben wir nicht, um etwas zu tun, sondern um etwas geschehen zu lassen. Das ist sehr wichtig.

 

Peter Schlüer: Spielt auch die menschliche Stimme eine Rolle in ihrer pianistischen Vorstellungswelt?

 

Olli Mustonen: Wir Pianisten spielen ja nur die Anfänge der Noten, das ist ein großer Unterschied zu Sängern oder Streichern, die einen Ton wirklich halten können. Wir sind wie Tennisspieler, die nur einen Impuls geben. Deshalb müssen wir mental die gesamte Dauer des Tones verfolgen wie einen Tennisball, der über das Netz fliegt. Man sieht nie einen Tennisspieler, der den Ball mit einer kleinen, ruckartigen Bewegung schlägt, was dem Klavierspielen flach über den Tasten entspräche. Nein, er bereitet den Schlag vor, indem er weit ausholt. Er lebt quasi mit dem Ball, und nach dem Schlag läßt er den Schläger ausschwingen. Wenn wir so klavierspielen, dann geschieht eine Art Wunder: Die Töne setzen sich im Raum über den Tasten fort wie die Bälle über dem Netz. Und nur manchmal berühren wir den Boden, also eine Taste, um einen Anfangsimpuls zu geben, um eine neue Note hinwegzusenden und zum nächsten Aufsetzpunkt zu schicken. So können wir die Musik als kontinuierlich erleben.

 

Verschlüsselte Geheimbotschaften

 

Peter Schlüer: Sie spielen ihr aktuelles Programm mit Noten auf dem Podium. Warum?

 

Olli Mustonen: Der Anblick einer Bachschen Fuge in der Partitur ist von wunderbarer Klarheit und Reinheit, er inspiriert mich ungeheuer. Zuerst gab es ja nur die Musik ohne Notation. Erst sehr langsam entwickelte sich unser heutiges Notationssystem. Es gibt auf der ganzen Welt hochbedeutende musikalische Kulturen, aber unsere westliche Musik hat in den letzten Jahrhunderten eine ganz außergewöhnliche Blüte erlebt, ein Wunder. Was hat das bewirkt? Warum sind wir so weit über die ursprüngliche Volksmusik hinausgekommen? Ich glaube, es liegt an dem phänomenalen Notationssystem, das wir gefunden haben. Es ist fantastisch präzise und inspirierend, eine Art verschlüsselte Geheimbotschaft von einem guten Musiker zum anderen: Man muß zwischen den Zeilen und den Noten lesen können. Früher spielte man immer von Noten, und das Publikum war sehr erstaunt, als Franz Liszt begann, auswendig zu spielen. Man dachte, er respektiert den Komponisten nicht mehr. Es ist eigentlich sehr seltsam, daß heute von jedem Pianisten erwartet wird, auswendig zu spielen.

 

Peter Schlüer: Erinnern Sie sich noch daran, wie Sie Noten lesen lernten?

 

Olli Mustonen: Ich erinnere mich noch sehr genau daran! Es war in meiner zweiten Cembalo-Stunde, als ich fünf Jahre alt war. Mit einem präzisen Schlag setzten sich mir: die Note auf dem Blatt, die Taste auf dem Instrument und der erklingende Ton zu einem dreidimensionalen Bild zusammen, und ich hatte den Schlüssel zu den Reichtümern unserer westlichen Musik gefunden. Ich glaube, noch am selben Abend spielte ich das ganze Klavierbüchlein für Anna Magdalena Bach durch, und meine Eltern waren etwas erstaunt.

 

Peter Schlüer: Fühlen Sie sich mehr als Komponist oder als Pianist?

 

Olli Mustonen: Absolut beides. Und ich liebe sehr das Wort 'Musiker'. Für mich bedeutet das, Komponist zu sein, Pianist, Dirigent und auch Lehrer. Erst im vergangenen Jahrhundert begannen sich diese Tätigkeiten in separate Berufe aufzuspalten. Ich glaube, das ist einer der bedauerlichen Gründe, weshalb in den letzten 30 Jahren weder im kompositorischen noch im instrumentalen Bereich besonders Interessantes passiert ist. Es gab nicht genug Interaktion zwischen Komponisten und Instrumentalisten. Es ist sehr gefährlich für einen Pianisten, die Aufmerksamkeit für den kreativen Prozeß des Komponierens zu verlieren. Ein Pianist, der nie einen Komponisten kennengelernt hat, versteht nicht, wie dieser denkt, und das ist sehr schlecht. Auch wenn man sehr begabt ist, wird man dann nur so etwas wie ein Kunsthandwerker. Für Komponisten gilt dasselbe: Sie werden zu Wissenschaftlern in ihren Laboratorien, die ihre Theorien machen, und nicht sehen, was passiert, wenn diese Theorien mit dem realen Leben konfrontiert werden. Komponisten, Instrumentalisten, Dirigenten, Lehrer, sie alle sollten 'Musiker' sein.

 

Finnischer Orpheus

 

Peter Schlüer: Weshalb kommen so erstaunlich viele musikalische Talente aus Ihrer Heimat Finnland, zum Beispiel die Dirigenten Esa-Pekka Salonen, Leif Segerstam und Paavo Berglund, oder Komponisten wie ihr Lehrer Einojuhani Rautavaara?

 

Olli Mustonen: Dafür habe ich zwei etwas seltsame Theorien, die aber sehr wichtig für mich sind. Die erste hat mit unserer Sprache zu tun. Sie zeichnet sich durch einen sehr starken Rhythmus und sehr klare Färbungen der Vokale aus. Mein guter Freund und Kollege Jukka-Pekka Saraste zum Beispiel hat einen sehr rhythmisch klingenden Namen, wenn man ihn richtig ausspricht. Über unsere Muttersprache bilden wir Finnen also bereits sehr früh ein klar definiertes Gefühl für Rhythmus und Vokalfärbungen aus. Das Ohr wird sehr gut trainiert. Dieses Phänomen konnte natürlich erst zur Blüte kommen, nachdem Leitfiguren wie Jean Sibelius die finnische Musikkultur aus ihrer Amateurhaftigkeit herausgeführt hatten.

 

Peter Schlüer: Und Ihre zweite Theorie?

 

Olli Mustonen: Sie hat mit der finnischen Mythologie zu tun, die noch bis ins vergangene Jahrhundert hinein von den großen finnischen Poetensängern tradiert wurde. Sibelius war tief fasziniert von dieser Kunst des Erzählens und Singens, und sein Werk ist davon beeinflußt, obwohl er das später leugnete. Diese mythische Tradition ist im finnischen Volk vielleicht noch etwas lebendiger als anderswo, die Menschen fühlen noch unmittelbarer den 'Ursprung' der Kultur aus der Natur heraus. Wenn man musiziert, zum Beispiel Beethoven spielt, dann gerät man in Kontakt mit einer großen Naturkraft, man wird Teil von etwas, das viel größer ist als man selbst. Und diese Verbindung zum Ursprung ist eine elementare Voraussetzung für die Lebendigkeit von Musik. Es gibt einen faszinierenden finnischen Orpheus-Mythos von der Musik: Der Held fängt einen Riesenfisch in einem großen See und tötet ihn. Aus seinen Knochen macht er ein Musikinstrument. Als er darauf spielt, kommen alle Tiere des Waldes um ihm zuzuhören, angezogen von der elementaren Kraft der Musik.

 

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Originalveröffentlichung von diesem Olli Mustonen Interview bei Klassik Heute

 

Olli Mustonens Aufnahme der Präludien und Fugen von Bach und Schostakowitsch

Johann Sebastian Bach ordnete seine zwei Zyklen zu je 24 Präludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers nach der chromatisch aufsteigenden Tonskala an, also C-Dur, c-Moll, Cis-Dur, cis-Moll... Schostakowitsch hingegen folgte in seinen 24 Präludien und Fugen op. 87 dem harmonischen Quintenzirkel, also C-Dur, a-Moll, G-Dur, e-Moll... Schostakowitschs Zyklus stellt eine intensive persönliche Auseinandersetzung, einen Dialog mit Bachs Wohltemperiertem Klavier dar. Dem finnischen Pianisten Olli Mustonen gelang es mit einem kongenialen Einfall, den ersten Teil des Wohltemperierten Klaviers mit Schostakowitschs Präludien und Fugen auf höchst elegante und zwingend logische Weise zu verschränken.

 

Der erste Teil dieser Verschränkung liegt auf obiger Doppel-CD vor. Auf den ersten Blick reißt Olli Mustonen Schostakowitschs Quintenzirkelprinzip auseinander: Er ordnet es dem chromatischen Prinzip Bachs unter, indem er auf Bachs C-Dur-Präludium und Fuge Schostakowitschs Präludium und Fuge No. 20 in c-Moll, No. 15 in Des-Dur und No. 10 in cis-Moll folgen läßt und dann drei Bach-Präludien und Fugen anschließt, um sich so in abwechselnden Dreiergruppen die chromatische Skala emporzuschrauben.

CD-Rezension Olli Mustonen von Peter Schlüer Bild klicken für diese CD auf iTunes

Der Clou von Mustonens Einfall tritt erst vollends zu Tage, wenn wir einen Blick auf die zweite Doppel-CD werfen und verstehen, wie die Verschränkungsformel hier angewendet wird: Mustonen ordnet nun umgekehrt Bachs chromatisches Prinzip der Quintenzirkelfolge Schostakowitschs unter, indem er mit Schostakowitschs C-Dur-Präludium und Fuge beginnt, Bachs No. 20 in a-Moll, No. 15 in G-Dur und No. 10 in e-Moll folgen läßt und dann drei Schostakowitsch-Präludien und Fugen anschließt, um sich so in abwechselnden Dreiergruppen diesmal den Quintenzirkel emporzuschrauben.

 

Insgesamt werden in diesem eleganten, symmetrischen Plan beide Zyklen vollständig durchlaufen und beide Ordnungssysteme greifen perfekt ineinander. Mustonen selbst formuliert, „die beiden Modulationsspiralen erfüllen sich auf fast wunderbare Weise gegenseitig": Ein Exempel dafür, daß die Musik die mathematischste der Künste ist, und zugleich eine Huldigung an die Zahlenmystiker Bach und Schostakowitsch.

 

Dieser kongenialen Erfassung musikalischer Strukturgesetze entspricht aufs Überraschendste das geradezu revolutionäre Spiel Mustonens. Statt, wie alle vor ihm, die Dynamik einzuschränken, um der linearen Stimmführung Bachs Raum zu geben, erfindet er das Klavierspiel gleichsam neu: Just mit den dynamischen Mitteln des modernen Konzertflügels läßt er Bachs Polyphonie vollkommen durchsichtig werden und in unerhörtem Leuchten erstrahlen. Auf grandiose Weise vermag der Mathematikerssohn Olli Mustonen Bachs vierstimmigen Fugen eine Transparenz zu verleihen, eine Fülle an freiem, atmendem Raum zwischen den einzelnen Stimmen zu schaffen, als spiele hier ein Streichquartett. Ein geradezu tänzerischer Zugang zu Bach, die Interpretation eines Trapezkünstlers des Klaviers, die Glenn Gould in höchstes Erstaunen versetzt haben dürfte. Es scheint, als habe Mustonen Bachs kontrapunktischer Kompaktheit Flügel verliehen.

 

Sein perkussiver, luftiger, gleißender Ton überspringt mühelos die Kluft zwischen den beiden Komponisten, schlägt die Brücke von Gipfel zu Gipfel über das riesige Tal von Zeit, und es erhebt sich ein fantastischer, tiefgreifender Dialog zwischen zwei Großmeistern der Kontrapunktik.

 

Mit dieser Aufnahme hat sich Mustonen endgültig in den Olymp der Pianisten gespielt.

 

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