von Peter Schlüer, Klassik Heute
Ein Luxushotel in einer deutschen Großstadt. Der Pianist Leif Ove Andsnes ist gerade wieder einmal von irgendwoher auf der Welt eingeflogen. Seine jungenhafte Erscheinung und die unprätentiöse Klarheit seiner Artikulation wollen nicht ganz in die barocke Atmosphäre des von Marmor und Gold dominierten Foyers passen. Als wir gemeinsam den von edler Tischwäsche durchschimmerten Frühstücksraum betreten, prallt Leif Ove Andsnes fast erschrocken zurück und bemerkt mit ironischem Kopfschütteln: „Reichlich viel weiß!"
Wer ihn näher kennengelernt hat, spürt es: Sein persönliches Wesen und das Wesen seiner Interpretationen sind ganz und gar im Einklang. Ihm liegt absolut nichts an der Fassade. Was er sagt und spielt, ist seine ungekünstelte eigene Wahrheit, die einem sicher verankerten Selbstgefühl entspringt. Seine besten Interpretationen scheinen von der kühlen und klaren Luft norwegischer Fjorde inspiriert. Zum Beispiel das Klavierkonzert von Grieg und das Zweite von Liszt mit dem Bergen Philharmonic Orchestra unter Dmitri Kitaenko: So klar strukturiert und durchhörbar, zugleich aber so tollkühn und vorwärtsstürmend, so poetisch und farbenreich war das zuvor noch kaum zu hören: ein im besten Sinne klassisches Spiel, dessen ausdrucksstarke Bewegtheit von innerer Ruhe gebändigt wird. Schon für sein CD-Solodebüt mit einer überwältigend expressiven Deutung von Janáceks Sonate 1.X.1905 war ihm der Preis der deutschen Schallplattenkritik verliehen worden. Kurz darauf erweckte Leif Ove Andsnes die selten gespielte erste Klaviersonate von Chopin zu neuem funkelnden Leben und wußte mit seinen Interpretationen der zweiten und dritten Sonate überraschend Neues und Bewegendes zu sagen.
Mittlerweile werden hier und da Spuren von Routine hörbar: Leif Ove Andsnes scheint manchmal in einer gewissen Sachlichkeit und Kühle, ja Konventionalität zu verharren. Vielleicht nur eine Übergangsphase, denn die Frische und Ursprünglichkeit seiner sensationellen Debüts blitzen immer wieder durch.
Den wäscheweißen Frühstücksraum haben wir schnell verlassen, in der frischen Luft des Gartens fühlt sich Leif Ove Andsnes sichtlich wohler. Gestern abend hat er das vierte Klavierkonzert von Beethoven gespielt, zusammen mit Paavo Berglund und dem City of Birmingham Orchestra, ein Werk, an dem ihm viel liegt. Heute noch wird er es in einer anderen deutschen Stadt aufführen: Tourneeroutine. Vor der Abreise übt er noch ein paar Stunden nicht etwa für das Konzert am Abend, sondern für einen anstehenden Aufnahmetermin im Studio: Bald soll eine CD mit Werken von Liszt entstehen.
Vorher jedoch bleibt noch Zeit für ein Gespräch, in dem er mit Peter Schlüer über die künstlerischen und persönlichen Koordinaten seines Pianistenlebens spricht.
Peter Schlüer: Gerade haben Sie das vierte Klavierkonzert von Beethoven mit Simon Rattle und dem City of Birmingham Orchestra aufgenommen. Konnten sie künstlerisch einen gemeinsamen Nenner finden?
Leif Ove Andsnes: Ja, ich bin mit dem Ergebnis sehr glücklich. Für mich war es eine tief beeindruckende und lehrreiche Erfahrung, mit Simon Rattle zusammenarbeiten zu dürfen. Er ist innerlich ständig hellwach während der Proben, wie ein Wirbelwind. Eine inspirierende Idee nach der anderen sprudelt mit unglaublicher Geschwindigkeit aus ihm heraus. Das Orchester frißt ihm förmlich aus der Hand, was die Proben natürlich enorm effektiv macht. Seine ungeheure Entschlossenheit ist einfach mitreißend.
Peter Schlüer: Dieses Konzert identifiziert man noch mit großen alten Namen wie Claudio Arrau oder Wilhelm Kempff. Ist es nicht manchmal schwierig, gegen die Hypothek solcher Legenden anzuspielen?
Leif Ove Andsnes: Nein. Fast jedes große Meisterwerk hat ja schon Interpretationen erfahren, die in gewisser Weise legendär sind. Wenn mir ein Stück wirklich etwas bedeutet, dann weiß ich auch ganz genau, wie ich es interpretieren will. Auch im Falle von Beethovens Viertem hatte ich von Anfang an sehr dezidierte Vorstellungen: Manche spielen dieses Konzert allzu lyrisch und feminin. Ich habe versucht, neue Seiten zu entdecken: Anfangs habe ich es vielleicht etwas zu virtuos und auftrumpfend gespielt, aber inzwischen glaube ich eine gute Balance gefunden zu haben zwischen lyrischer Zartheit und zupackendem Biß. Die Partitur ist ungemein klangmalerisch, deshalb hängt auch sehr viel vom Farbenreichtum des Flügels ab, wie intensiv das Ergebnis ist.
Peter Schlüer: Und auch der Dialog mit dem Orchester ist besonders subtil.
Leif Ove Andsnes: Ja, richtig. In dieser Hinsicht ist das Vierte sogar das schwierigste der Klavierkonzerte von Beethoven. Vieles hängt von der Leistung des Orchesters ab. Manche diffizilen Tempowechsel muß man gemeinsam sehr genau herausarbeiten, damit das Resultat natürlich klingt. Das Vierte ist sowohl pianistisch als auch musikalisch am anspruchsvollsten, schönsten und unbegreiflichsten. Jedesmal wenn ich es spiele, erlebe ich es von neuem wie einen Traum, wenn das Orchester nach dem eröffnenden G-Dur des Klaviers in diesem wunderbar fernen H-Dur einsetzt. Eine Modulation, die immer wieder überwältigend schön ist. Wie schockierend muß sie erst zu Beethovens Zeit gewirkt haben!
Peter Schlüer: Er blickt mit dieser Modulation weit über den Horizont seiner Zeit. Mit Ihrer letzten CD haben Sie zurückgeblickt auf Beethovens wichtigstes Vorbild Haydn. Wie trafen Sie eine Auswahl aus der Fülle seines Schaffens?
Leif Ove Andsnes: Viele Jahre lang habe ich mit Vorliebe seine Sonaten für mich selbst vom Blatt gespielt, sozusagen als Freizeitbeschäftigung. Diejenigen der mittleren Periode begannen mich mehr und mehr herauszufordern: Sie können leicht akademisch und eckig wirken. Man muß sie quasi erst aus der Enge auf dem Notenpapier befreien. Ich schätze besonders ihre Kompaktheit und Klarheit. Die späten Sonaten hingegen sind experimenteller, offener und fast doppelt so lang, bewegen sich mehr in die Richtung von Mozart.
Peter Schlüer: War es schwierig, sich in die Welt Haydns einzufühlen?
Leif Ove Andsnes: Das ist natürlich nie so leicht. Aber ich finde, für einen heutigen Musiker ist es noch wesentlich diffiziler, sich in die romantische Welt von Franz Liszt einzufühlen, da es viel mehr Vorurteile aus dem Weg zu räumen gilt. Meine nächste CD wird ausschließlich Werke von Liszt enthalten. Er wird meistens viel zu heftig und virtuos gespielt. Zeitzeugen berichten, daß er selbst sehr viel leichter und nobler gespielt hat, auch wenn er ein passionierter Virtuose war, der sich pianistischer Effekte bediente. Es ist nicht ganz einfach, die Schönheit seiner Musik wirklich zu erfassen.
Peter Schlüer: Gilt Ihr Interesse auch den Stoffen, die Liszt zu seinen Kompositionen angeregt haben, dem Mythos von Hero und Leander zum Beispiel, der den Hintergrund der zweiten Ballade bildet?
Leif Ove Andsnes: Ja, ich habe einiges darüber gelesen. Aber im Grunde teilt sich das Wesentliche in den Noten selbst mit. Natürlich kann einem der programmusikalische Kern helfen, in die romantische Vorstellungswelt zu gelangen, aber die viel komplexere Botschaft der Musik übertrifft ihn bei weitem.
Peter Schlüer: Wie nähern Sie sich dieser komplexen Botschaft, wenn Sie ein neues Werk erarbeiten?
Leif Ove Andsnes: Einerseits intuitiv, andererseits ganz pragmatisch. Ein ganz zentraler Aspekt sind die Fingersätze, die ich gleich am Anfang so exakt wie möglich zu erarbeiten versuche. Ich lasse mir für diesen Prozeß sehr viel Zeit und notiere jede neue Erkenntnis in die Noten. Manche meiner alten Partituren kann ich schon fast nicht mehr lesen, so viel habe ich darin herumgekritzelt. Das ist die erste und wichtigste Grundlage, um ein Stück technisch zu bewältigen.
Peter Schlüer: Hat Ihr Lehrer Jiri Hlinka Sie dazu angeregt?
Leif Ove Andsnes: Ja, er hat mir früher oft sehr überraschende Fingersätze vorgeschlagen, auf die ich selbst nie gekommen wäre. Er zeigte mir zum Beispiel, wie man den Daumen als eine Art Stützpunkt für die ganze Hand benutzen kann. Oder daß der schwache vierte Finger, den Robert Schumann mit seiner Zigarrenmechanik zu trainieren versuchte, der stärkste Finger für manche Passagen sein kann, wenn man ihn nur richtig einsetzt. Sein Unterricht hat mir sehr dabei geholfen, natürliche Fingersätze für mich zu finden.
Peter Schlüer: Dieser Lehrer hat auch Ihr Interesse am norwegischen Klavierrepertoire geweckt?
Leif Ove Andsnes: Ja, er machte mich mit dieser Welt schon früh vertraut. Inzwischen habe ich eine CD mit einer Auswahl der besten Werke von Geirr Tveitt, David Monrad Johansen, Fartein Valen und Harald Saeverud eingespielt. Saeverud ist in der Generation nach Grieg der bekannteste Komponist Norwegens. Sein Sohn Ketil Hvoslef hat für mich ein Klavierkonzert und ein Tripelkonzert geschrieben. Die norwegische Musiktradition ist noch sehr jung. Unser Land wurde ja erst 1905 unabhängig. Ein Großteil der Kompositionen basiert sehr stark auf der Volksmusik. Man versuchte, eine betont nationale Ausdrucksform zu finden. Besonders Edvard Grieg, der für fast alle späteren Komponisten den entscheidenden Ausgangspunkt bildete. Die Ergebnisse sind oft sehr faszinierend, manchmal jedoch scheint das Diktat dieses Volksmusikidioms die Kreativität in allzu enge Schranken verwiesen zu haben.
Peter Schlüer: Bevor Sie von Jiri Hlinka in diese Welt eingeführt wurden, bekamen Sie Unterricht von Ihren eigenen Eltern. Waren sie es, die Ihr Talent entdeckten?
Leif Ove Andsnes: Eigentlich war ich es, der die Initiative ergriff: Als ich vier Jahre alt war, fragte ich, ob ich auch Klavierstunden haben dürfe, genau wie die Schüler, die zu uns ins Haus kamen, denn meine Eltern sind beide Musiklehrer. Drei Jahre lang gaben sie mir selbst Unterricht, dann wurde es mir bei ihnen zu langweilig und ich bekam einen anderen Lehrer in meinem Heimatort: In Norwegen gibt es in jeder kleinen Gemeinde Musikschulen, die vom Staat gefördert werden. Jeder der will, kann Unterricht nehmen, unabhängig von seiner persönlichen finanziellen Lage. Ich ging acht Jahre lang an so eine Musikschule, bis ich ans Konservatorium von Bergen zu Jiri Hlinka kam.
Peter Schlüer: Und nach relativ kurzer Studienzeit traten Sie schon öffentlich auf.
Leif Ove Andsnes: Mit 17 Jahren gab ich mein Debüt in Norwegen mit vier Recitals in Oslo, Bergen, Stavanger und meiner Heimatstadt Karmoy. Das wurde von der Presse glücklicherweise sehr aufmerksam und positiv aufgenommen. Ein Jahr später gewann ich dann den zweiten Preis beim Eurovisionswettbewerb. Den ersten bekam damals der Geiger Julian Rachlin. Wenige Tage darauf durfte ich das Klavierkonzert von Grieg beim Bergen-Festival spielen, das ich dann auch oft im Ausland aufführte.
Peter Schlüer: Auch bei Ihrem Solodebüt im Münchner Herkulessaal spielten Sie Kompositionen von Grieg, außerdem Nielsen und Chopin. Der Kritiker des Abends fand das Programm zu exotisch...
Leif Ove Andsnes: Ich versuche immer eine gute Mischung von Bekanntem und Exotischem zu finden. Mein Lehrer regte mich sehr dazu an, die unbekannten Gefilde des Repertoires zu erforschen. Ich staune immer wieder darüber, wieviele Meisterwerke es noch zu entdecken gibt.
Peter Schlüer: Fast einer Entdeckung kam Ihre Aufnahme der ersten Sonate von Chopin gleich, da Sie mit der Qualität Ihrer Deutung die wenigen anderen Interpreten dieses Werkes klar aus dem Feld schlugen...
Leif Ove Andsnes: Die Idee, diese Sonate in Angriff zu nehmen, habe ich meinem Lehrer zu verdanken. Heute würde ich sie vielleicht nicht mehr studieren, denn sie ist sehr lang und schwer und hat doch manche Schwachpunkte. Aber wenn man die Jugend des Komponisten bedenkt, kann man nur staunen. Vielleicht werde ich sie irgendwann mal wieder spielen, ich habe sie ja noch in den Fingern.
Peter Schlüer: Nicht nur bei dieser Aufnahme fällt auf, daß Ihre Studioproduktionen wie aus einem Guß klingen, als gäbe es kaum Schnitte.
Leif Ove Andsnes: Ja, ich mag es gar nicht, eine Studioaufnahme wie ein Puzzle Takt für Takt zusammenzustückeln, wie es offenbar manche Musiker tun. Denn wenn man ein Stück spielt, muß man den Spannungsbogen innerlich fühlen können. Nur so kann Atmosphäre und durchgehender rhythmischer Duktus entstehen. Ein elektronisches Puzzle kann natürlich auch sehr eindrucksvoll klingen, aber die Emotionen sind dann nur noch vorgetäuscht, die Sache hat dann nichts mehr mit Musik zu tun! Ich würde immer eine schlechte Live-Aufnahme mit vielen Fehlern vorziehen, bei der künstlerisch irgendetwas passiert, wo Leben pulsiert.
Peter Schlüer: In Deutschland seufzen viele über die wirtschaftliche Krise in der Klassikbranche. Spüren Sie in Ihrer Karriere etwas davon?
Leif Ove Andsnes: Ich denke darüber eigentlich kaum nach. Es gibt natürlich Orte, wo weniger Konzerte stattfinden, dafür werden aber anderswo ganz neue Initiativen ergriffen. Ein wirkliches Problem ist allerdings der Kult um die großen Stars der Klassikszene und die damit einhergehende astronomische Inflation der Konzertgagen. Manche Stars fordern heute so extrem hohe Summen, daß die Organisatoren, die solche Musiker engagieren wollen, für den Rest der Saison kaum noch finanzielle Mittel übrighaben. Und verzichten will doch niemand auf die Stars, weil jeder glaubt, von ihrem Prestige abhängig zu sein. Das ist eine wirklich beängstigende Entwicklung der letzten zehn Jahre.
Peter Schlüer: Manche glauben sogar, das Publikum für klassische Musik würde aussterben.
Leif Ove Andsnes: Ich sehe das nicht so dramatisch. Unser Publikum war im Durchschnitt immer schon ziemlich alt, das ist doch nichts Neues. Das Interesse für klassische Musik scheint im allgemeinen erst ab einem bestimmten Alter zu erwachen, wenn etwas Ruhe ins Leben eingekehrt ist. Aber offenbar wird es zunehmend schwieriger, die junge Generation erzieherisch auf diesen Schritt ins musikalische Leben vorzubereiten, und solcher Vorbereitung bedarf es ja. Es ist keine Selbstverständlichkeit mehr, daß Leute in der Kirche, in einem Chor oder mit ihren Kindern singen, daß Musik in irgendeiner Form aktiver Bestandteil des Lebens ist. Es ist ein Jammer, wenn Musik zur Geräuschkulisse degradiert wird und in jeder Ecke aus Lautsprechern rieselt. Der bedeutungsvolle Kontakt mit Musik ist etwas, was man lernen muß.
Peter Schlüer: Haben Sie als Musiker eine Mission?
Leif Ove Andsnes: Nein, dieses Wort ist mir im Zusammenhang mit Musik ganz und gar fremd. Denn Musik repräsentiert nichts anderes als sich selbst. Deshalb ist es auch so schwer, über sie zu sprechen. Es ist schlicht und einfach so, daß ich keine andere Wahl habe, als zu musizieren. Ich liebe Musik so sehr, sie ist so sehr ein Teil von mir, daß ich es einfach tun muß. Ich werde von der Musik innerlich angetrieben und brauche den Kontakt mit ihr. Und ich möchte sie mit anderen teilen, deshalb gebe ich Konzerte. Ich könnte mir kein anderes Leben vorstellen. Ich weiß nicht ob Musik bessere Menschen hervorbringt. Aber vielleicht macht uns die Musik zu etwas zufriedeneren und ausgeglicheneren Menschen.
Peter Schlüer: Gibt es außer der Musik noch andere Dinge, die Sie für Ihre persönliche Ausgeglichenheit brauchen, zum Beispiel die Natur Norwegens?
Leif Ove Andsnes: Ich bin am Meer aufgewachsen, auf einer Insel an der Westküste Norwegens. Da gab es viel wilde Natur. Ich liebe das Meer immer noch sehr, aber inzwischen fühle ich mich als Stadtmensch auch sehr wohl. Seit zwei Jahren habe ich eine Wohnung in Kopenhagen. Von dort kann ich die großen Städte Europas schneller erreichen als von Bergen, wo ich auch einen Teil des Jahres verbringe. Meine Freunde in der Stadt sind mir wichtiger als die Einsamkeit der Natur, obwohl ich mich für kurze Zeit manchmal gerne an solche Orte zurückziehe, wo man niemanden trifft, wo es ganz friedlich ist.
Peter Schlüer: Haben Sie schon das Gefühl, in Kopenhagen zuhause zu sein?
Leif Ove Andsnes: Ich verbringe dort viel Zeit mit meinen Freunden und versuche wenigstens, ein Gefühl von Heimat herzustellen, auch wenn ich, wie so oft, nur ein paar Tage zuhause bin. Denn wenn ich nur meinen Koffer abstelle und ihn gar nicht erst auspacke, weil ich in vier Tagen schon wieder weg bin, dann wird das Reiseleben zu einer Last. Ich habe da so ein paar Tricks gelernt, wie ich Heimatgefühle wecken kann. Klavier spiele ich zuhause wenig. Ich übe mehr, wenn ich unterwegs bin, in den Zeiten zwischen den Konzerten. Auch Werke, die ich am jeweiligen Abend nicht im Konzert spielen muß, studiere ich oft während einer Tour. Das Reiseleben ist nie wirklich angenehm, es ist ziemlich einsam.
Peter Schlüer: Aber ganz und gar nicht einsam sind Sie, wenn Sie alljährlich in das norwegische Küstenstädtchen Risor fahren, wo Sie ein eigenes Kammermusikfestival gegründet haben...
Leif Ove Andsnes: Das stimmt, zusammen mit dem Bratschisten Lars Anders Tomter, der mit mir künstlerischer Leiter des Festivals ist, lade ich jedes Jahr internationale Musiker für eine Woche nach Risor an die Südostküste Norwegens ein und gestalte das musikalische Programm. In diesem Jahr werden wir mit dem ganzen Festival auch nach London reisen, wo fünf Konzerte in der Wigmore Hall vorgesehen sind. Das Festival macht mir sehr viel Freude. Es ist sehr schön zu sehen, wie wunderbar die Pläne, die man gemeinsam geschmiedet hat, umgesetzt werden. Ich denke, solche Festivals sind sehr wichtig für Musiker. Obwohl wir nur sehr kleine Gagen zahlen können, kommen alle doch immer wieder sehr gerne nach Risor und bleiben die ganze Woche. Sie können dort ihre Kollegen treffen und es herrscht eine wesentlich intimere und persönlichere Atmosphäre als im institutionalisierten internationalen Musikleben. Wir treffen uns zum Beispiel alle gemeinsam zu den Mahlzeiten, die von einem speziellen Gourmetchef zubereitet werden. Er wird auch als einer der Künstler betrachtet und bekommt seine eigene Gage.
Peter Schlüer: Seit langem schon planen Sie, sich von diesem höchst aktiven Musikerleben eine kreative Pause zu gönnen; werden Sie das auch realisieren?
Leif Ove Andsnes: Ja, ganz sicher. Ab nächsten Herbst nehme ich mir für ein halbes Jahr komplett frei von Konzerten. Dann möchte ich mich unter anderem dem gründlichen Studium von Bach widmen. Zwischen Konzerten ist das nicht möglich, denn man braucht Zeit und Ruhe für Bach. Ich wurde als Kind nie dazu gedrängt, Bach zu spielen, was ich heute sehr bedaure. Denn es wäre natürlich schön, ein ganz unmittelbares Verhältnis zur Polyphonie zu haben. Ich habe gerade mit der fünften Partita begonnen. Ich bin mir nicht sicher, bis zu welchem Grade ich die nötige Freiheit in dieser Musik erreichen kann. Glenn Gould zum Beispiel konnte alles mit einer Fuge machen, was er wollte, etwa das Thema immer wieder neu präsentieren. Ich glaube, man muß eine ganz elementare Freiheit erlangen, um Bach gut spielen zu können. Das gilt auf andere Weise auch für Schubert, zu dem ich mich noch stärker hingezogen fühle. Ich habe das Gefühl, Schubert könnte meine große Liebe werden. Er ist wie ein verborgener Schatz, den ich schon seit einigen Jahren heben will, den ich vielleicht mehr als alles andere lieben werde. Vielleicht ist die richtige Zeit dafür jetzt gekommen. Ich freue mich jedenfalls schon sehr darauf.
Peter Schlüer
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Originalveröffentlichung von diesem Leif Ove Andsnes Interview verfügbar hier bei Klassik Heute